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14.1. Gescheitert sind wir - Ein deutsches Jahrhundert (GHS 91)

Zum Nachdenken über hundert Jahre deutsche Geschichte


1.

Gescheitert sind wir, auf den Stufen

zerscherbt liegt die Jahrhundertzeit.

Und dennoch, Gott, hat uns berufen

die Hand DEINER GERECHTIGKEIT.

Erst kam der Adel samt dem König,

die Bürger und der vierte Stand.

Wem wär’n wir heute untertänig?

DIR – der nichtöffentlichen Hand!


2. 1871; 1888

Man schuf ein Reich aus Blut und Eisen

im Spiegelsaale von Versailles.

Hoch LEBTE Bismarck, Deutschland, Preußen,

der deutsche Kaiser lebte neu.

Doch starb der Sohn, und seinen Vater

sah gern der Enkel stumm und kalt.

Der große fürstliche Berater,

er liebte herzlich seinen – Wald.


3. 1914

Gescheitert sind wir dann am FRIEDEN,

als man zum Weltreich sich verstieg.

Die all der Sonntagsreden Müden

begrüßten jauchzend Vater Krieg.

Begeisternder als Frauenrechte

war Hass auf Wilhelms Mutterland,

und aus dem Ring der Feindesmächte

erlöste sie ein Weltenbrand.


4. 1919; 1932

Der Freiheit, die man gründen sollte

auf dem Versailler Schuld-Diktat,

und mit ihr dem Franzosen grollte

man in sich selbst als Demokrat.

Sich noch vom Abgrund wegzureißen,

bevor man sich hinein verstieß,

sollt es „Im Namen Gottes“ heißen:

ob er sich das gefallen ließ?


5. 1933/39

Gescheitert sind wir im Vertrauen

auf einen, der die Welt betrog,

auf ein Idol, das uns – o Grauen! –

von Anfang an geschickt belog,

die WAHRHEIT sei nur Kampf auf Kosten

der andern um den Götzen Raum.

„Greift zu in Polens, Russlands Osten!“ –

O böser Ungeziefer-Traum!


6. 1945

Nachdem der Wahn der falschen Mitte

sich bei uns gründlich ausgetobt,

sind wir dem menschlicheren dritten

Jahrtausend glaubend angelobt?

Sind wir GERECHTER, Gott bereiter,

als Volk nicht mehr entzwei geteilt?

Gescheitert sind wir, sind gescheiter

wir nun, vom deutschen Reich geheilt?



Denn, Gott, du hast uns geprüft und geläutert / wie das Silber geläutert wird (Ps 66,10).

Du läuterst uns durch heißes Leiden / wie Silber rein wird in der Glut (EG 279,4). So Matthias Jorissen in seiner Nachdichtung des 66. Psalms Jauchzt, alle Lande, Gott zu Ehren (1798).

Gescheitert sind wir – die Kontrafaktur auf Jorissens Psalmlied eignet sich weniger zum Singen als zum Nachdenken. Auf hundert Jahre deutscher Geschichte kann ich mich nicht besinnen ohne zu leiden angesichts von Schuld und Versagen. Darüber Rechenschaft geben könnte ich nicht auch nur ansatzweise, ohne den Einsichten eines Geschichtsdenkers zu folgen, der mich seit meinen Studienjahren beeindruckt hat, Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973). Mit seinem Werk über die Europäischen Revolutionen im zweiten Jahrtausend vermag er uns zu läutern, aus Deutschen zu Europäern und zu Miteinwandrern … der einen Erde (Lied 90,7).

Rosenstock-Huessy schrieb einmal: „So wie das neunzehnte Jahrhundert in seinen Pseudo-Baustilen das Inhaltsverzeichnis der Weltgeschichte genannt worden ist (von Joseph Wittig), so ist auch das Kaisertum im neunzehnten Jahrhundert die nur den Namen noch einmal verzeichnende Erledigung der sakralen Leiche der Vorzeit. Es braucht ein volles Jahrhundert, um ein volles Jahrtausend zu beerdigen.“ ... (GHS Seite 470f)




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